Martin Brausewetter: Gentleman, Künstler, Gelehrter Renée Gadsden Univ.-Lekt. Mag.art. Dr.phil., Universität für angewandte Kunst Wien Lässt man die prähistorische Höhlenmalerei außer Acht, so ist Eitempera nach der Wachsmalerei die älteste bekannte Maltechnik. Sie war im antiken Griechenland und Ägypten sehr beliebt und uns heute am besten aus der Kunst des Mittelalters und der Frührenaissance sowie aus der religiösen Kunst der byzantinischen Ära bekannt. Martin Brausewetter malt in Eitemperatechnik. Wie die Alten Meister trennt er sorgfältig den Dotter vom Eiweiß und mischt ihn mit Pigmenten und anderen Ingredienzien, um sein Medium herzustellen. Eitempera trocknet rasch und ist danach nicht mehr löslich. Die Farbe kann daher übermalt werden, ohne dass die darunterliegende Farbschicht verändert wird. Der schichtweise Farbauftrag ist eines der wichtigsten Merkmale von Brausewetters Stil. Beim Betrachten seiner Arbeiten kann man sich geradezu im Farbreichtum und in der Tiefe und Opulenz des Farbauftrags verlieren. Das Malen mit Eitempera ist zeitraubend und braucht großes technisches Geschick. Trotz der kurzen Trockenzeit ist Eitempera nicht das Medium der Wahl für rasches Malen. Martin Brausewetter meint, dass seine Bilder erst nach ein bis zwei Jahren völlig getrocknet und ausgehärtet sind. Die Bewegung, ja Unruhe der Oberfläche, die man beim Betrachten wahrnimmt, kann trügerisch sein, der erste Eindruck mag täuschen. Bei längerem Hinsehen offenbart sich nämlich Profundes: seine Liebe zu Eitempera als Material, die Disziplin und Strukturierheit, wie sie für das Mischen der Farbe, die Vorbereitung des Malgrundes und schließlich für den schichtweisen Auftrag erforderlich ist. Der Einfluss des frühen Abstrakten Expressionismus ist für Brausewetter von großer Bedeutung. Mark Rothko, Jackson Pollock, Willem de Kooning und Arshile Gorky haben ihn inspiriert. Was nur wenige wissen: Als einer der WPA-Künstler verwendet auch Pollock Eitempera für Wandbildstudien und Wandbilder. (WPA, kurz für "Works Progress Administration", war ein Programm der amerikanischen Regierung unter Franklin D. Roosevelt, mit dem in den Jahren 1935-1943 die Künste gefördert wurden.) Brausewetter fühlt auf Grund der Spannung zwischen bewusst gesetzter Geste und Zufall, aus der die Bilder entstehen, eine gewisse Seelenverwandtheit mit Pollock. Ein Maler aus dem europäischen Umfeld dieser Zeit, den Brausewetter sehr schätzt, ist Emil Schumacher. Nach dem Zweiten Weltkrieg spielte Schumacher eine entscheidende Rolle als Erneuerer der deutschen Kunst, als er den abstrakten Stil der Art Informel etablierte. Charakteristisch für Art Informel ist der Gestus in der Malerei, der von keinerlei Formbegriff eingeschränkt wird. Betrachtet man die Bilder von Martin Brausewetter, so denkt man jedoch weder an Abstrakten Expressionismus noch an Art Informel – der Geist dieser beiden Richtungen mag sie inspiriert haben, doch Zitate daraus wird man vergeblich suchen. In Brausewetters Bildern finden wir spontan oder geplant aufgetragene Eitemperaschichten, die sein wichtigstes Werkzeug geformt hat: die Rasierklinge. Ihrer bedient sich Brausewetter auf geradezu akribische Weise, um seine Umrisse, Gebilde und Landschaften auf die Leinwand zu bannen. Das Ringen zwischen den zahlreichen, dick und dicht aufgetragenen Farbschichten und dem winzigen Instrument, mit dem er sie bearbeitet, verleiht den Bildern eine Vitalität, die nicht nur sichtbar, sondern physisch spürbar ist. Seine Arbeiten werden zwar als Gemälde, Eitempera auf Leinwand, klassifiziert, doch vieles an ihnen erinnert an Skulpturen. Die Formen entstehen durch die Arbeit mit der Klinge, nicht dem Pinsel. Unsere visuelle Erfahrung ist das Ergebnis eines Kampfes von David gegen Goliath, der zarten Klinge gegen die wuchtigen Farbschichten. Nicht umsonst sind zwei von Brausewetters Lieblingskünstler – Louise Bourgeois und Tony Cragg – Bildhauer. Der Dadaist und Surrealist Max Ernst entwickelte in den 1920er Jahren die Frottage-Technik, bei der er einen Bleistift oder ein anderes Zeichenwerkzeug über die Textur einer Oberfläche rieb und diese damit übertrug. Er entwickelte diese Technik unter der Bezeichnung "Grattage" (Kratzbilder) für Ölbilder weiter. Bei der Grattage wird die Leinwand mit einer oder mehreren Schichten Farbe versehen; dann wird eine Spachtel oder ein anderes Werkzeug verwendet, um Kratzer über die Oberfläche zu ziehen oder die Farbe von der Leinwand zu schaben. Ernst entwickelte die Grattage zusammen mit Joan Miró, der diese Technik ebenso einsetzte. Max Ernst, der Maler als Protagonist, und sein Dadaistenkumpan André Breton, mit dessen literarischem Schaffen Brausewetter äußerst vertraut ist, sind für ihn Seelenverwandte. Wie Brausewetter selbst sagt, tragen seine Bilder eine starke surrealistische Komponente in sich – man muss sie nur zu finden wissen. Das Unbewusste als Quelle der Inspiration nimmt im Surrealismus einen zentralen Platz ein, und ist ein Schlüssel zum Verstehen von Brausewetters Werk. Auch der französische Dramatiker Jean Anouilh, einer der Pioniere des Theaters des Absurden, das in Frankreich gegen Ende der 1940er Jahre seinen Anfang nahm, ist für Brausewetters künstlerische Entwicklung von großer Bedeutung. Brausewetter selbst sagt, dass die in bewusste Strukturen eingebetteten, unbewussten und zufälligen Geschehnisse in Anouilhs Werken seine eigene malerische Sprache stark beeinflusst haben. Obwohl Schriftsteller und nicht Maler, gruppierte Anouilh seine Stücke interessanterweise nach Farben, die der vorherrschenden Stimmung des Dramas entsprachen – so gibt es rosa Stücke und schwarze Stücke. Bemerkenswert erscheint, dass Brausewetters Arbeiten großteils ohne Titel bleiben, obgleich er das Lesen liebt und das geschriebene Wort für außerordentlich wichtig hält. So insistiert der Künstler, dass wir seine Schöpfungen direkt, ungefiltert erleben sollen. Seine Bilder wollen in erster Linie Augen und Emotionen ansprechen und erst in zweiter Linie das Denken. Ohne Anleitung durch einen Titel wird der Betrachter rascher in Martin Brausewetters visuelles Universum, seine Schule des Sehens hineingezogen. Der Künstler beschreibt seine Kunst als "eine Synthese von Werkzeugen und Erkenntnissen". Brausewetter baut bewusst auf der Freiheit und dem Raum auf, den frühere Künstler geschaffen haben. Die Freiheit, Tropfbilder oder Kratzbilder zu schaffen, die Freiheit, mit klar erkennbaren Gestalten oder reiner Abstraktion zu arbeiten: alle Möglichkeiten, die die Kunstgeschichte zu bieten hat, eignet sich Martin Brausewetter an und nützt sie, damit sie seiner künstlerischen Sicht der Dinge dienen. Im Ergebnis beschert er dem Betrachter damit eine aufregende Erfahrung, als Künstler muss er damit aber auch die Konsequenz einer gewissen Isolation tragen. Martin Brausewetters Bilder gibt es keine zweites Mal. Er ist kein Teil einer Bewegung, hat kein Manifest verfasst, gehört keiner Gruppe an. Er verwendet nicht einmal ein beliebtes Material: der Großteil aller zeitgenössischen Malerei ist in Öl oder Acryl ausgeführt. Als Künstler, der Eitempera verwendet, steht er allein auf weiter Flur. Bislang war es nicht möglich, seinen Stil irgendwie einzuordnen, und Künstler, die nicht klassifizierbar sind, werden vom zeitgenössischen Kunstbetrieb nicht ausreichend wahrgenommen. Es ist doch paradox: Theoretisch soll Kunst originell, anders sein – praktisch gesehen wird ein Zuviel an Originalität zur Entstehungszeit jedoch meist nicht unbedingt geschätzt oder belohnt. Oft braucht es einen Abstand von Jahren, ja sogar Jahrzehnten oder länger, damit der Wert künstlerischer Arbeit für die Allgemeinheit klar zu Tage tritt. Für Brausewetter ist das freilich kein Problem, denn seine Werke sind für die Ewigkeit gedacht. Es gibt Beispiele von Eitemperagemälden aus dem 15. Jahrhundert, die auch ohne Restaurierung bis heute nichts von ihrer Farbbrillanz eingebüßt haben. Martin Brausewetter ist in diversen Privatsammlungen vertreten. Seine Arbeiten werden seit mehr als 20 Jahren eifrig gesammelt und die Sammler berichten, dass die Bilder auch dann, wenn sie nicht unter idealen Bedingungen gehängt werden oder der Sonne ausgesetzt sind, noch immer dieselbe Tiefe und Sattheit der Farben aufweisen wie am ersten Tag. Das zeugt davon, wie ernst es dem Künstler mit seiner Kunst ist, und vor allem auch, welch enormes Wissen in jedem Bild steckt. Der wichtigste Beitrag des Künstlers zur Kunstgeschichte aber könnte das "Martin Brausewetter-Blau" sein. Diese Blauschattierung – ein tiefes, dunkles Blau, das ins Schwarz hineinspielt – findet sich in den meisten seiner Bilder; vielleicht ist es am besten geeignet, um zu seinem Markenzeichen zu werden. Martin Brausewetter-Blau ist eine kräftige Farbe, mysteriös und schwer zu beschreiben. Es unterscheidet sich deutlich vom Schwarz, das Brausewetter ebenfalls häufig verwendet. Sein Blau ist opulent, nimmt einen gefangen, es hat jene pulvrig-samtige Qualität, die nur Temperafarbe haben kann. Martin Brausewetter-Blau ist eine Farbe, die den Betrachter ins Bild hineinzieht, fasziniert, völlig anders ist als jedes Blau, das man üblicherweise gewohnt ist. Es ist keine Standardnuance, die man als Ölfarbe oder Acrylfarbe im Künstlerbedarfgeschäft kaufen kann, es ist eine geheime Mischung aus dem Atelier eines Mannes, der mit den Techniken der Alten Meister wohl vertraut ist. So sehr Brausewetter auch die westliche Kultur kennt und liebt, darf man doch nicht vergessen, dass er voller Neugierde und Faszination auch den Rest der Welt betrachtet. Tao: The Watercourse Way von Alan Watts ist ein Buch, das dem Künstler ebenso viel bedeutet wie Tristes tropiques von Claude Lévi-Strauss. Letzteres beeindruckte ihn in den 1980er Jahren sehr und schlug sich in seiner ersten Reise außerhalb der westlichen Welt nieder, als er 1984 Indien besuchte. Seither ist er um den Erdball gereist und hat seine spirituelle Heimat in Brasilien gefunden. Natur, Menschen, Kultur, Schönheit und Tragik Brasiliens spielen in der Entwicklung seiner Kunst eine wichtige Rolle. Seine Liebe zu Brasilien spiegelt sich in seinen Bildern, seinen Fotoarbeiten und seinen "soliden Boliden" – Holzmöbeln oder möbelähnlichen Objekten, die Brausewetter aus Treibholz fertigt und weiß streicht. Die Boliden haben oft lange Beine, laut Brausewetter auch ein Verweis auf die Stelzen, auf denen die Häuser in den Favelas, den Armenvierteln Brasiliens, stehen. Umrisse von Boliden integriert Brausewetter auch in manche Bilder und vor allem in die Fotocollagen. Martin Brausewetter, ein Mann mit einsamem Herzen, ist durch seine konzentrierte und zielstrebige Entdeckungsreise in die Tiefen seines Metiers Schöpfer eines Oeuvres, das nach bester europäischer Tradition mit dem Alter nur noch besser wird.
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